E-POLITIK.DE: Herr Dr. Trenin, in deutscher Sprache ist zuletzt 2005 Ihr Buch „Die gestrandete Weltmacht. Neue Strategien und die Wende zum Westen” erschienen. Darin schreiben Sie unter anderem, dass Russland im Grunde gar keine andere Wahl hat, als sich dem Westen anzunähern. Inwieweit haben sich Russland und somit Ihre Einschätzung verändert?

Dmitri Trenin
Trenin was director of the Carnegie Moscow Center from 2008 to early 2022.
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DMITRI TRENIN: Ja, in diesem Buch schrieb ich darüber, dass Russland sich in Richtung Europa entwickelt. Ich schrieb zwar „Richtung Westen“, doch im Grunde meinte ich die europäische Perspektive, eine gewisse Symbiose Russlands mit Europa. Im Moment bin ich etwas weniger geneigt, die Dinge so zu sehen. Ich denke zwar nach wie vor, dass sich Russland in einer recht breiten Auslegung der Begrifflichkeit in Richtung der sogenannten Westernisierung entwickeln wird, aber dennoch entlang seiner kulturellen, osteuropäischen, byzantinischen Wurzeln, auch wenn Russland durchaus ein ernstzunehmendes muslimisches Element hat. Allerdings kann ich mir in einem wie auch immer gearteten Zukunftsszenario nicht vorstellen, dass Russland ein Teil des geeinten Europas, der EU, sein wird.

„Weil Russland die EU aus den Fugen bringen wird“

E-POLITIK.DE: Was verstehen Sie unter dem Terminus Europa? Ist das für Sie die Europäische Union? Gehört Russland zu Europa?

DMITRI TRENIN: Für mich ist das politische Europa die EU. Für mich ist „Europa“ ein Kürzel für die Europäische Union.

E-POLITIK.DE: Schließlich gibt es die Unterscheidung zwischen einem EU-Europa ohne Russland und einem geographischen Europa, welches Russland bis zum Uralgebirge einschließt.

DMITRI TRENIN: Ich sehe das etwas anders und mehr aus der politischen Sicht. Unter bestimmten Umständen könnte die Ukraine und im Prinzip sogar Weißrussland sich dem vereinten Europa anschließen – Russland nicht. Rein aus beiderseitigen Eigeninteressen ist Russland nicht Teil Europas, also der EU, und sollte dies auch nicht anstreben.

E-POLITIK.DE: Warum?

DMITRI TRENIN: Weil Russland die EU aus den Fugen bringen und sich niemals unter die Direktive aus Brüssel stellen wird. Moskau wird niemals die Krone an Brüssel abgeben. Das liegt am eigenen kulturellen Verständnis der Elite, schließlich bleibt eine gewisse kulturelle DNS erhalten. Ähnlich, wie wir uns nicht die Vereinigten Staaten oder die Volksrepublik China vorstellen könnten, über denen irgendetwas drüber steht, seien es auch die Organisationen der Vereinen Nationen.

Inzwischen habe ich ein weiteres Buch geschrieben, welches bis zu einem gewissen Grade die Fortsetzung des Buches ist, von dem Sie gerade sprachen. Das englische Original gibt es in einer russischen Übersetzung. Es ist interessant, dass diese Publikation besonders in den fernöstlichen Staaten und nicht im Westen für Aufmerksamkeit gesorgt hat. Es gibt inzwischen eine japanische und eine chinesische Übersetzung.

„In Deutschland rufen russische Thematiken kaum Interesse hervor“

E-POLITIK.DE: Eine deutsche Ausgabe ist nicht geplant?

DMITRI TRENIN: Bedauerlicherweise nicht. Ich habe bei befreundeten deutschen Verlegern nachgefragt, ob es ein deutsches Interesse an dieser Thematik gibt – und ein solches ist wohl nicht vorhanden, was mich im Grunde nicht weiter gewundert hat. In Deutschland rufen russische Thematiken kaum Interesse hervor. Wenn Putin oder die Einschränkungen von Freiheit – ich denke da zum Beispiel an “Pussy Riot” – noch gelegentlich welches wecken können, tun es tiefergehende Themen in der Regel nicht.

E-POLITIK.DE: Wir könnten versuchen, welches zu wecken.

DMITRI TRENIN: Ich weiß nicht. Man kann Interesse nicht erzwingen. Es sieht so aus, als ob Russland im europäischen Kontext nicht mehr als so bedeutend wahrgenommen wird.

E-POLITIK.DE: Warum, glauben Sie, ist das so?

DMITRI TRENIN: Ich denke, es hat viel mit dem Prozess einer einsetzenden Müdigkeit mit dem Regime zu tun, nachdem Putin wieder das Präsidentenamt bekleidet. Und so erwartet man einfach nicht viel von Russland, zumindest nicht viel Gutes. Putin ist schließlich verhältnismäßig jung und kann durchaus noch bis 2024 im Amt bleiben. Auf der anderen Seite gibt es mit den asiatischen Staaten – allen voran China – starke Konkurrenten, die im Gegenzug reale Neuigkeiten bringen. Und nicht zuletzt hat Europa genug mit sich selbst zu tun. Russland bleibt somit eine alte Nachricht und nicht wie zur Sowjetzeit eine, wenn auch negativ konnotierte, Alternative. Heute wird das Thema Russland schlicht von einem negativ konnotierten Desinteresse begleitet.

„Russland hat aufgehört, ein Imperium zu sein“

E-POLITIK.DE: Um wieder auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Was ist nun tatsächlich neu an der Entwicklung in Russland?

DMITRI TRENIN: Erstens: Russland hat aufgehört, ein Imperium zu sein, und befindet sich seitdem in einem Transitzustand, da es noch keine neue, postimperiale Qualität gefunden hat. Zweitens: Trotz des Verlustes des Supermachtstatus – ich weiß nicht, wie viele Ebenen Russland nun an Bedeutung tatsächlich einbüßte – hat Russland es geschafft, sich wieder zu stabilisieren und bleibt weiterhin unter den wichtigsten geopolitischen Akteuren auf der Weltbühne, was doch recht selten ist in der Geschichte. Denn in der Regel verlieren die Nachfolgestaaten von Imperien ihre Bedeutung. Das trifft auf Großbritannien, auf Frankreich, auf Deutschland, auf Japan genauso wie auf das Osmanische Reich zu.

E-POLITIK.DE: Das widerspricht in gewisser Weise Ihrer Einschätzung, wonach das eurasische Imperium zusammengebrochen sei und nicht mehr wiederkehre. Versucht Russland wieder, ein eurasisches Imperium zu errichten oder, anders formuliert, was sind die Qualitäten des neuen Post-Imperiums? Woran lässt sich das festmachen?

DMITRI TRENIN: Die neue Qualität lässt sich nicht so sehr am eigenen Einfluss auf andere festmachen, als daran, inwieweit diese neue Großmacht es schafft, den Einfluss fremder Großmächte von sich fernzuhalten. Mit anderen Worten: Russland ist eines der wenigen Länder auf der Welt, welches selbst über seine eigene geostrategische Position bestimmt. Beim genauen Blick auf die Weltbühne werden wir lediglich drei wirkliche, wenngleich sehr unterschiedlich starke, geopolitische Akteure finden. Die Europäische Union ist keiner davon. Sie hat zwar eine enorme ökonomische Stärke, jedoch stellt sie keine bedeutende strategische Macht dar. Zwar sind viele der EU-Staaten in der NATO, allerdings sind die meisten nicht bereit oder Willens im militärischen Bereich Leitungsaufgaben zu übernehmen und akzeptieren im Grunde die Führungsrolle der USA. China ist ein geopolitischer Spieler. Die USA sind unbestritten der wichtigste Spieler. Indien und Brasilien sind derzeit keine geopolitischen Spieler. Beide befinden sich noch in einem Vorstadium. Und somit bleibt Russland als ein schwächerer Spieler zwischen diesen beiden Giganten. Schwach ist Russland vor allem in ökonomischer Hinsicht und solange sich das nicht ändert, wird es ein schwacher Spieler bleiben.

„Putin ist ein Stabilisator, er ist kein Modernisierer“

E-POLITIK.DE: Ist Russland langfristig oder gar mittelfristig überhaupt in der Lage, eine eigene Position jenseits dieser Machtsphären zu entwickeln und zu realisieren?

DMITRI TRENIN: Ich denke ja. Schauen wir uns an, was Russland heute darstellt. Dies können wir nur verstehen, wenn wir die gegenwärtige Situation im historischen Kontext betrachten. Nach der Katastrophe des Staatszerfalls, welche sehr tiefgreifende Ursachen hatte, seien diese ökonomischer, politischer, ideologischer, geopolitischer Natur, befindet sich das Land nun in einem Stadium der Stabilisierung, das sich vielleicht in die Länge zieht und am besten durch Putin verkörpert wird. Putin ist ein Stabilisator, er ist kein Modernisierer.

E-POLITIK.DE: Was kommt nach Putin?

DMITRI TRENIN: Ich hoffe, die Modernisierung, eine wirkliche Modernisierung des Landes.

E-POLITIK.DE: Doch wenn Putin der Garant für Stabilität ist und es Putin nicht mehr gibt, wer garantiert dann die Stabilität?

DMITRI TRENIN: Ich denke, dass in der Zeit nach Putin die Gesellschaft dies selbst in die Hand nimmt.

E-POLITIK.DE: Die Gesellschaft?

DMITRI TRENIN: Ja, die Gesellschaft. Meine Vermutung ist, dass sich die Gesellschaft wandelt, langsam reift. Die Gesellschaft wird zunehmend strukturierter und formiert ihre Interessen. Wenn sie nichts haben – und im Prinzip hatte der Sowjetmensch nichts – ja, er hatte vielleicht eine Wohnung zum leben, doch juristisch konnte er kein Eigentum besitzen. Ein solches Verständnis gab es in der Sowjetunion nicht. Und der Sowjetmensch konnte in diesem Zusammenhang nur wenig verlieren. Sein Leben natürlich, das Wichtigste, was ein Mensch hat. Doch wenn wir von diesem hohen Verständnis absehen, hatte der Sowjetmensch nicht viel zu verlieren. Deshalb konnte er recht naiv zur Veränderung zur Aventüre schreiten. Er sah Veränderung positiv. Der heutige russische Mensch ist um ein Vielfaches weniger naiv: Er glaubt weit weniger, dass irgendwelche Erschütterungen eine schnelle Veränderung des Lebensstandards herbeiführen und ist daher viel konservativer. Auch materiell besitzt der heutige russische Mensch viel mehr als früher. Der Wohlstand umschließt zunehmend mehr Menschen, auch nach westlichen Standards.

E-POLITIK.DE: Konservativ in welchem Sinne?

DMITRI TRENIN: Sozialkonservativ. Dieser Mensch möchte keine Revolution, gleichzeitig sieht er aber auch die Aktivitäten der Machthabenden durchaus kritisch. Und er denkt in jedem Fall, dass eine Erschütterung nicht zur Verbesserung der Situation führt.

„Wir befinden uns in einer Phase des blühenden Pluralismus“

E-POLITIK.DE: Wie schaut ein solcher Mensch auf die Pluralität, die im Grunde die Basis jedes Demokratieverständnisses ist? Denn zum jetzigen Zeitpunkt gibt es in Russland keine Pluralität und insbesondere die gutausgebildete junge Bevölkerung emigriert vorzugsweise in den Westen, da es keine Möglichkeit zu oppositioneller Tätigkeit, zu echter Veränderung zu geben scheint.

DMITRI TRENIN: Ich denke nicht, dass diejenigen emigrieren, die etwas verändern wollen. Es emigrieren in erster Linie diejenigen, die sich selbst verwirklichen möchten. In einer Welt mit durchlässigen Grenzen wählen Menschen die bestmöglichen Bedingungen, um voranzukommen. Es geschieht selten, dass Menschen emigrieren, weil eine Veränderung aussichtslos erscheint. Diejenigen, die etwas verändern wollen, müssten wissen, dass eine reale Veränderung nur sehr langsam zu realisieren ist. Womöglich müsste man sein gesamtes Leben darauf fokussieren und das Leben wird hart, um real auch nur geringfügig etwas geändert zu haben. Ein Mensch, der in seinem Land Erneuerungen will, muss bereit zu sehr schwerwiegenden Entscheidungen sein. Daher sind es nicht die, die etwas verändern wollen, die auswandern. Es emigrieren andere. Die, die bleiben, versuchen, eine weniger globale Veränderung herbeizuführen. Vielleicht wird das am besten durch Volontär-Bewegung illustriert, das, was wir in der Regel unter „make a difference” verstehen.

Und generell bin ich nicht damit einverstanden, zu meinen, dass es in Russland wenig Pluralität gebe. Ich würde sogar sagen, wir befinden uns in einer Phase des blühenden Pluralismus – zwischen den Menschen und nicht zwischen den Parteien. Es gibt nun endlich Diskussionen über gesellschaftliche Werte! Dies geschieht nicht wie früher zwischen dem Zaren und dem Volk, nein, es geschieht inmitten der Gesellschaft. Und wir finden viele verschiedene Ansätze aus allen politischen Richtungen.

„Die Russländer im Ganzen sind doch eher Zyniker“

E-POLITIK.DE: Wo findet diese Debatte statt? Auch in den Medien, im Fernsehen?

DMITRI TRENIN: Ja, auch in den Medien, auch im Fernsehen treffen diese verschiedenen Standpunkte aufeinander. Klar verändern Debatten zunächst mal nichts, im Grunde sind sie auch nicht dafür da. Vielmehr tragen Debatten zur Festigung von zum Teil auch sehr weitreichenden Standpunkten bei. Eine der letzten größeren Debatten fand in Zusammenhang mit dem Georgien-Krieg oder der Debatte über die Rolle der Kirche im Staat auch unter Berücksichtigung der Muslime statt, oder auch die Auseinandersetzung über gleichgeschlechtliche Ehen usw.

E-POLITIK.DE: Im Westen sieht man die Russländer gerne als ausgeprägte Zyniker an, die nicht an reale Veränderungen glauben und sich daher auch nicht weiter ins politische Terrain begeben.

DMITRI TRENIN: Der Zynismus ist in der russländischen Gesellschaft ohne Zweifel stark verbreitet. Allgemein, denke ich, ist dieser auch unumgänglich in der Etappe in der sich die russländische Gesellschaft im Moment befindet. Zu sehr ist die gesellschaftliche Moral gefallen, zu sehr sind die gesellschaftlichen Werte erschüttert worden. Für viele sind die einzigen Werte heute nur noch jene, die sich in Rubel, Euro oder Dollar messen lassen. Daher würde ich zustimmen, dass die Russländer im Ganzen doch eher Zyniker sind. Das ist zum einen ein Abwehrreflex und zum anderen eine Anpassung an das sie umgebende Umfeld.

E-POLITIK.DE: Das heißt: „Nach Putin kein neuer Putin“?

DMITRI TRENIN: Ich sehe keinen neuen Putin. Das heißt, es ist nicht zwangsläufig, dass auf Putin ein „guter“ Zar folgen wird. Ich denke, dass in Zukunft eine Konstitution kommen wird. Heute ist der Präsident die Konstitution.

„Die Figur des Zaren hat in Russland durchaus eine Bedeutung“

E-POLITIK.DE: Was fehlt der russländischen Gesellschaft, um dieses Ziel zu erreichen?

DMITRI TRENIN: Die heutige russländische Gesellschaft konnte noch keine politische Nation formieren, keinen sogenannten Gesellschaftsvertrag schließen. Die Menschen in Russland sehen noch zu viele Dinge, die sie trennen und noch zu wenige, die sie einen. In einem solchen Szenario herrscht der Zar und sorgt für Ordnung. Denn die Alternative zu einer politischen Nation ist Chaos. Erst wenn sich die Menschen darauf geeinigt haben, dass sie mehr eint, als sie trennt, kommt es zu einer politischen Nation. Diesen Zustand haben wir in Russland noch nicht erreicht. Sobald sich die Menschen darauf geeinigt haben, dass sie mehr eint, als trennt – dabei können und werden sie durchaus auch verschiedene Positionen vertreten –wird der Zar verschwinden. Sie brauchen gemeinsame Werte, die sie alle vereinen.

E-POLITIK.DE: Diese gemeinsamen Werte schließen dann alle Russländer ein? Alle Menschen oder Bewohner Russlands mit einem russischen Pass?

DMITRI TRENIN: Nicht nur alle mit einem Pass, sondern jeden, der sich den russländischen Werten verbunden fühlt und mit dem Bewusstsein, dass sie in erster Linie Russländer sind. Ferner ist es nicht von Bedeutung, ob es sich bei ihnen z.B. ethnisch um Russen oder Tataren handelt. Doch soweit ist es noch nicht gekommen. Daraus resultiert, dass in Russland die Figur des Zaren durchaus eine Bedeutung hat. Es geht hierbei nicht um Putin. Stellen Sie sich an dessen Stelle z.B. Nawalny vor, dann haben wir den Zar Nawalny.

E-POLITIK.DE: Wer wird diese Gesellschaft erschaffen? Die Gesellschaft selbst?

DMITRI TRENIN: Selbstverständlich sie selbst.

E-POLITIK.DE: Sie hatten vor einigen Jahren mal gesagt, dass Russland sich neu erfinden müsse. Hat sich Russland inzwischen neu erfunden?

DMITRI TRENIN: Russland ist nach wie vor in diesem Prozess des Sich-Neuerfindens und es tut dies im Prinzip in eine als doch recht positiv zu bewertende Richtung.

E-POLITIK.DE: Um Sie nicht falsch zu verstehen: Wie lässt sich eine positive Bewertung der russischen Entwicklung im Zusammenhang mit den kürzlich in Kraft getretenen Agentengesetzen vereinbaren, wonach sich jede Nichtregierungsorganisation, die Gelder aus dem Ausland erhält, als „ausländischer Agent“ umregistrieren lassen muss?

DMITRI TRENIN: Dieses Gesetz beruht auf einer Fehleinschätzung Putins. Er glaubt, dass die Opposition sich ausschließlich aus ausländischen Quellen speist, dass all die Proteste aus dem Handeln amerikanischer Agenten herrühren. Daher ist die Idee die folgende: Lass uns diese Quellen als ausländische Agenten brandmarken, gleichzeitig eine Propagandakampagne in der Bevölkerung durchführen, damit die Menschen glauben lernen, dass „die“ Ausländer Russland schwächen wollen und das die Ausländer die „fünfte Kolonne“ im Land bezahlen.

E-POLITIK.DE: Das heißt, wenn Sie sagen, dass Russland sich im Prinzip positiv entwickelt, meinen Sie nicht die Politik?

Dmitri Trenin: Nein, ich meine die Gesellschaft. Ich meine nicht die Politik und nicht die Wirtschaft. Solange sich in Russland keine politische Nation herausgebildet hat, wird Russland faktisch von einem Zaren regiert werden. Das, was wir hier sehen, ist die Politik eines Zaren, der versucht, eine Revolution zu unterbinden.

„Russland entwickelt sich nach seinen eigenen Triebkräften“

E-POLITIK.DE: Sie sprechen häufig vom „Getting Russia right“: Wie versteht man nun Russland richtig?

DMITRI TRENIN: Wenn ich von „Getting Russia right“ spreche, dann bedeutet das zuallererst, dass man auf Russland nicht mehr durch das Prisma vergangener Hoffnungen schaut, nicht durch das Prisma seiner Nachbarstaaten, nehmen wir hier zum Beispiel Polen. Der Blick sollte vielmehr durch die sogenannten „historischen Rhythmen“ geleitet werden. Man darf nicht vergessen oder – besser – man sollte verstehen, was das Faktum für das heutige Russland bedeutet, dass es 70 Jahre lang ein bedeutender Teil der Sowjetunion war. Was es bedeutet, dass noch 150 Jahre zuvor der größte Teil der russischen Bevölkerung, faktisch betrachtet, Sklaven waren. Diese Dinge müsste man schlicht verinnerlichen. Ich würde sagen, dass, um Russland zu verstehen, folgende Punkte beachtet werden müssen:

Erstens: Russland entwickelt sich organisch. Meiner Ansicht nach entwickelt sich Russland so, wie es sich entwickeln kann. Dies geschieht auf der Grundlage zweierlei Dinge: ihre eigenen innerstaatlich treibenden Kräfte und die Tatsache, dass Russland in einer globalisierten Welt lebt, das heißt, es ist nicht von der restlichen Welt abgeschottet. Die Grenzen und der Markt sind offen. Russland entwickelt sich zuallererst entlang seiner eigenen Stimuli. Das bedeutet für mich, es entwickelt sich organisch.

Zweitens: Das Interessante an Russland ist nicht die Politik, der man allerdings die größte Aufmerksamkeit schenkt. Das ist auch nicht die Wirtschaft, die nach wie vor rückständig und so, wie sie halt ist, bleibt. Das sind die Veränderungen in der Gesellschaft, die gerade beginnen und von denen ich bereits sprach.

Und zuletzt würde ich sagen, dass Europa durchaus auch ein Interesse daran hat beziehungsweise haben sollte, dass sein Nachbar ein möglichst zivilisierter ist. Wenn dem tatsächlich so sein sollte, dann wäre für Europa eine ehrliche Politik angeraten, eine Politik einer Öffnung hin zu eben dieser sich entwickelnden Gesellschaft. Die russische Gesellschaft sollte auch in der EU selbst ein Vorbild haben bei seiner Entwicklung. Schließlich ist Russland in kultureller Hinsicht ein Teil Europas. Es ist nicht Teil des politischen Europas, aber ein Teil des kulturellen Europas, so wie die Vereinigten Staaten auch nicht Teil des politischen Europas, aber durchaus Teil der europäischen Zivilisation sind.

„Die Gesellschaft ist gleichzeitig Subjekt und Objekt der Modernisierung“

E-POLITIK.DE: Ein weiterer von Ihnen geprägter und vielzitierter Terminus wäre die konsequente Modernisierung. Was ist hierunter zu verstehen?

DMITRI TRENIN: Ich meine damit, dass eine Modernisierung nicht durch vereinzelt ausgewählte Projekte vonstatten gehen kann. Eine Modernisierung kann nicht nur in einzelnen Bereichen wie der Ökonomie oder der Technik stattfinden, auch wenn dies der aktuellen russischen Regierung durchaus gefallen würde. Eine Modernisierung muss alle Bereiche einschließen. In diesem Prozess muss die Gesellschaft gleichzeitig sowohl als Objekt als auch als Subjekt aufzutreten. Eine solche Modernisierung muss in einem Raum geschehen, in dem dieselben Regeln für alle gelten.

Lassen Sie mich das durch folgenden Punkt verdeutlichen: Sie sind ja viel durch Russland gereist und dabei haben Sie auch gesehen, wie die Menschen Auto fahren. Sie haben gesehen, wie sie parken. Nun solange die Menschen sich als Verkehrsteilnehmer weiterhin so benehmen, werden sie sich als Gesellschaft nicht hin zur Rechtsstaatlichkeit entwickeln. Man kann keinen Rechtsstaat fordern und als Verkehrsteilnehmer die anderen rechts über die Reservebahn überholen. Aktuell wird der Ruf nach einem Rechtsstaat nur allmählich, schrittweise formuliert, daher ist die Gesellschaft gleichzeitig Subjekt und Objekt dieser Modernisierung.

In einem nächsten Schritt muss der russische Staat das Stadium einer Liberalisierung, einer Konstitutionalisierung durchleben. Schließlich wäre ein direkter Übergang zur Demokratie ohne ein rechtsstaatliches Fundament in Wirklichkeit ein Schritt zurück. Es ist unabdingbar, diese liberale Etappe intensiv zu durchleben. Damit ist der Liberalismus des 19. Jahrhunderts gemeint, das heißt, Verfassung und Rechtsstaat und nicht „liberal“ im wirtschaftlichen Sinne oder in Bezug auf Toleranz. Erst dann können wirkliche demokratische Institutionen implementiert werden und tatsächlich verantwortlich sein. Daher bin ich ein Verfechter einer schrittweisen und konsequenten gesellschaftlichen und staatlichen Entwicklung.

„Man sollte sich nicht nur beim Zaren verlieren“

E-POLITIK.DE: Was sagen Sie zu der These, dass es in Russland einen Rechtsstaat gibt, nur sei dieser selektiver Natur?

DMITRI TRENIN: Nun, dann ist es auch kein Rechtsstaat. Sehen Sie Stalin hatte auch Gesetze. „Rechtsstaat“ bedeutet, dass dieselben Gesetze für alle gleich und mit Sicherheit gelten und exekutivunabhängig richterlich ausgelegt werden.

E-POLITIK.DE: Zusammengefasst heißt das?

DMITRI TRENIN: Russland hat noch einen langen Weg vor sich. Doch wenn man die Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklung und Formation analysiert, ist das heutige Russland eines der spannendsten und interessantesten Länder der Welt. Ich sage es noch einmal: Die größte Aufmerksamkeit sollte den gesellschaftlichen Prozessen gewidmet werden und sich nicht nur beim Zaren verlieren. Denn zurzeit schwimmt die Aufmerksamkeit auf der Oberfläche beim Zaren und die Tiefe wird meiner Ansicht nach völlig vernachlässigt. Eben diese tiefen gesellschaftlichen Bewegungen entwickeln sich jedoch, sie lenken Russland in eine positive Richtung. Ich denke, dass die Menschen überall doch recht gleich sind und im Endeffekt werden sie Interessen gemeinsam erarbeiten und sich zu organisieren wissen – in der Gesellschaft, im Staat und in ihrer Positionierung auf der Weltbühne. In diesem Sinne schließe ich positiv, auch wenn ich im Grunde ein Realist bin, doch sicherlich kein Pessimist.

E-POLITIK.DE: Herr Dr. Trenin, vielen Dank für das Gespräch!

Dieses Interview wurde ursprünglich in e-politik.de veröffentlicht.